Insolvenzantragsgründe Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit

Von Esther Klein 23. May 2024 15 min. Lesezeit
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A.  Einleitung

In Krisensituationen ist es für Geschäftsführer und Vorstände entscheidend zu wissen, wann ein Insolvenzantrag gestellt werden muss. Ein verspäteter Antrag kann erhebliche finanzielle Folgen haben, da die verantwortlichen Personen für Zahlungen haften, die nicht mit der Sorgfalt eines ordnungsgemäßen Geschäftsführers geleistet wurden. Diese Haftung betrifft nicht das Unternehmensvermögen, sondern das Privatvermögen des Geschäftsführers oder Vorstandes. Mit dem nachstehenden Blogbeitrag möchten wir Sie für die Insolvenzantragspflichten sensibilisieren, um persönliche Haftungsrisiken zu vermeiden.

 

B.  §°15 a InsO ­­– Die Insolvenzantragspflicht

Die Norm des §°15°a°InsO begründet, stark vereinfacht ausgedrückt, die Pflicht zur Insolvenzantragstellung für alle Gesellschaften, bei denen keine natürliche Person unbeschränkt nach außen haftet. Es ist wichtig zu betonen, dass eine Verletzung dieser Pflicht in erster Linie keine direkten Auswirkungen auf die Rechtsposition einzelner Gläubiger hat. Vielmehr zielt das Schutzkonzept der Norm darauf ab, die kollektive Befriedigungsmöglichkeit der Gesamtheit der Gläubiger zu sichern. Insofern treten im Anwendungsbereich der Norm die Interessen des einzelnen Gläubigers hinter die Interessen der Gläubigergesamtheit zurück. Normzweck ist vielmehr, unternehmenstragende Gesellschaften, deren Weiterführung durch die Unternehmensleitung gläubigerschädigende Auswirkungen zur Folge hätte, aus der gesellschaftsrechtlichen Selbstverantwortung in das Insolvenzverfahren zu überführen (vgl. K. Schmidt InsO/K. Schmidt/Herchen, 20. Aufl. 2023, InsO § 19 Rn. 1, 2). §°15°a°InsO adressiert daher die entsprechenden Vertretungsorgane des Schuldners und aktiviert eine Pflichtenstellung der Organe zugunsten der Gläubigergemeinschaft (vgl. Uhlenbruck/Mock, 15. Aufl. 2019, InsO § 17 Rn. 2). Voraussetzung zur Aktivierung der in der Norm geregelten Antragspflicht, setzt das Vorliegen des Insolvenzgrundes der Überschuldung im Sinne des §°19°InsO oder der Zahlungsunfähigkeit i. S. d. §°17°InsO voraus.

Die Insolvenzordnung kennt drei Insolvenzantragsgründe, nämlich die Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO), die drohende Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) und die Überschuldung (§ 19 InsO). Während die eingetretene Zahlungsunfähigkeit und die Überschuldung die Organe verpflichten einen Insolvenzantrag zu stellen, berechtigt der Insolvenzgrund der drohenden Zahlungsunfähigkeit lediglich zur Stellung eines Antrages, verpflichtet die Organe aber nicht.

Dieser Beitrag erläutert die unter §°17 InsO und §°19 InsO definierten und von der Rechtsprechung konkretisierten Begriffe der Zahlungsunfähigkeit und der Überschuldung, insbesondere deren Feststellung. Die drohende Zahlungsunfähigkeit (§°18 InsO) wird hier zurückgestellt.

 

C.  §°17 Abs. 1 InsO – Die Zahlungsunfähigkeit

Zahlungsunfähigkeit i. S. d. §°17 Abs.°2 S.°1 InsO ist die aus Mangel an Zahlungsmitteln resultierende Unfähigkeit, die fälligen Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen. In seinem Urteil vom 24.05.2005 (Az.: IX ZR 123/04) konkretisierte der BGH den Begriff der Zahlungsunfähigkeit dahingehend, dass der Begriff der Zahlungsunfähigkeit i. S. d. §°17 InsO das Vorliegen einer anhaltenden Liquiditätslücke (Differenz zwischen liquiden Mitteln einerseits und fälligen Verbindlichkeiten andererseits) von mindestens 10 % voraussetzt.  Beträgt die Liquiditätslücke weniger als 10 % ist von Zahlungsfähigkeit auszugehen, sofern die Liquiditätslücke in absehbarer Zeit geschlossen werden kann. Von der Zahlungsunfähigkeit ist, abstellend auf die Dauer („absehbare Zeit“) der anhaltenden Liquiditätslücke, die Zahlungsstockung abzugrenzen. Der BGH qualifiziert in seinem Urteil vom 24.05.2005 einen Zeitraum von drei Wochen als erforderlich aber auch als ausreichend, um die nötigen Kreditmittel zu beschaffen, um die Liquiditätslücke am Prüfungsstichtag vollständig zu schließen. Mithin liegt nach Auffassung des BGH (vgl. v.z. Urteil) eine Zahlungsstockung, nicht aber die Zahlungsunfähigkeit vor, wenn die Liquiditätsunterdeckung einen Zeitraum von drei Wochen nicht überschreitet.

Wenngleich es für die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit nicht nur auf die Höhe der Liquiditätslücke ankommt, erlangt die 10 %-Grenze des BGH insbesondere Bedeutung bei der Frage, wem im Falle der später eingetretenen Insolvenz die Beweislast einer zu einem früheren Zeitpunkt eingetretenen Zahlungsunfähigkeit obliegt. Ist die Lücke kleiner als 10 % trägt derjenige die Beweislast, der den Antragspflichtigen in Regress nimmt; ist sie größer als 10 % ist vom Geschäftsführungsorgan vorzutragen und zu beweisen, dass es aufgrund der zum damaligen Zeitpunkt verfügbaren Erkenntnisse und Feststellungen nicht von einer Zahlungsunfähigkeit ausgehen musste. Ferner erlangt die 10 %-Grenze des BGH Bedeutung für den Sicherheitsgrad, mit dem die Schließung der Liquiditätslücke innerhalb eines vom BGH zugestandenen Prognosezeitraums zu fordern ist. Demzufolge bedarf es umso größerer Gewissheit für den Eintritt und zeitlichen Verlauf der Besserung der Liquiditätslage.

In seinem Urteil vom 19.12.2017 (AZ.: II ZR 88/16) verlangt der BGH für die Darlegung der Zahlungsunfähigkeit i. S. d. §°17 Abs.°2°S.°1 InsO eine gesonderte Gegenüberstellung der zu berücksichtigen fälligen Verbindlichkeiten und liquiden Mittel des Schuldners, etwa in Form einer Liquiditätsbilanz. In diese Liquiditätsbilanz seien auch die innerhalb von drei Wochen nach dem Stichtag fällig werdenden Verbindlichkeiten (Passiva II) einzubeziehen. Sowohl Wissenschaft als auch Praxis haben sich intensiv mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Liquiditätsbilanz befasst (vgl. hierzu bspw. Philipp / Säuberlich, ZInsO 2022, 77 ff., Gutmann, NZI 2021, 473ff.). So ging das Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) bereits 2015 in seinem Standard S11 von der Berücksichtigung der Passiva II aus. Demnach sind auf der Aktivseite neben den verfügbaren Zahlungsmitteln (Aktiva I) die innerhalb von drei Wochen liquidierbaren Finanzmittel einzubeziehen (Aktiva II). Diese werden zu den am Stichtag fälligen Verbindlichkeiten (Passiva I) und den innerhalb von drei Wochen fällig werdenden Verbindlichkeiten (Passiva II) in Bezug gesetzt.
In seinem Urteil vom 28.06.2022 (AZ.: II ZR 112/21) entschied der II. Zivilsenats des BGH, dass es für die Darlegung der Zahlungsunfähigkeit i.S.d. §°17 InsO ausreichend ist, mehrere tagesgenaue Liquiditätsstatus unter Zugrundlegung statischer Liquiditätsdaten aufzustellen und konstatierte damit die Geeignetheit der retrograden Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit mittels statischer Liquiditätsdaten im Zivilprozess. Die Entscheidung erlangte nicht zuletzt aufgrund der hohen Praxisrelevanz große Aufmerksamkeit in der Fachliteratur (vgl. bspw. Hermanns / Frecking, InDat Report 07/2022, 52 ff.; Gutmann, Anmerkung zu dem BGH-Urteil vom 28.06.2022 (AZ. II ZR 112/21), NZI 2022, 787, 789 ff.; Steffan, KSI 2022, 237 ff.; Steffan / Poppe / Oberg, ZIP 2022, 1961 ff.; Berbuer, ZInsO 2022, 1769 ff.; Commandeur / Utsch, NZG 2022, 1531 ff.). Die Praxis fußte ihre retrograde Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit insbesondere zur Aufarbeitung von Anfechtungs- und Haftungsansprüchen bereits seit geraumer Zeit auf die Auswertung stichtagsbezogener Liquiditätsdaten. Mithin erfordert die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit im Sinne des §°17 Abs. 2 S. 1 InsO nicht zwingend die Aufstellung einer Liquiditätsbilanz, sondern kann auch mit anderen Mitteln dargelegt werden.“ (vgl. BGH, Urteil vom 28.06.2022; Az.: II ZR 112/21) neben der Eröffnung alternativer Ermittlungsmethoden insbesondere die Anerkennung der gelebten Praxis zu entnehmen.

 

 

BGH, Az.: II ZR 112/21 Urteil vom 28.06.2022

In dem Sachverhalt, welcher dem vorbenannten Urteil zu Grunde lag, nahm ein Insolvenzverwalter, den Geschäftsführer eines insolventen Unternehmens für verbotene Zahlungen nach § 64 GmbHG a.F. klageweise in persönliche Haftung. Der Insolvenzverwalter stützte sich hier auf ein von unserer Kanzlei erstelltes Zahlungsunfähigkeitsgutachten nach IDW°S°11. Der BGH bestätigte unsere hier verwandte Ermittlungsmethode zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit. Im Auftrag von Insolvenzverwaltern erstellen wir regelmäßig Gutachten zur Bestimmung des Zeitpunkts des Eintritts der materiellen Insolvenzreife (Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung), arbeiten IT-gestützt Organhaftungs- und Anfechtungsansprüche und andere insolvenzspezifische Ansprüche auf. Mithin ist unsere Vorgehensweise nunmehr durch höchstrichterliche Rechtsprechung bestätigt worden. Der zu Grunde liegende Sachverhalt des Rechtsstreits und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Beratungs- und Prozesspraxis haben wir in einem Blogbeitrag auf unserer Homepage ausführlich zusammengefasst.

 

 

 

Mithin kann die Zahlungsunfähigkeit nunmehr auf Grundlage statischer Liquiditätsdaten nachgewiesen werden, sodass die Aufstellung einer Liquiditätsbilanz auf den Stichtag der Prüfung und zusätzlich weiterer mindestens drei Liquiditätsstati im Drei-Wochen-Zeitraum, ausreichend ist. Eine Prüfung durch Aufstellung einer dynamischen Liquiditätsbilanz, bei der sich die Deckungslücke aus einer Addition von Aktiva I und II abzüglich addierter Passiva I und II ergibt, ist nicht mehr erforderlich (vgl. BGH, Urteil vom 19.12.2017 – II ZR 88/16; BGH, Urteil vom 28.06.2022; Az.: II ZR 112/21).

 

D.  §°17 Abs. 2 S. 2 InsO – Die Zahlungseinstellung

Darüber hinaus manifestiert sich insbesondere gegenüber den beteiligten Verkehrskreisen regelmäßig dann die (widerlegliche) Annahme der eingetretenen Zahlungsunfähigkeit, wenn der Schuldner seine Zahlungen eingestellt hat. Nach Auffassung des BGH liegt die insolvenzrechtliche Zahlungseinstellung bereits bei Nichtzahlung eines wesentlichen Teils der fälligen Verbindlichkeiten vor (vgl. BGH, Urteil vom 15.03.2012 – IX ZR 239/09; BGH, Urteil vom 21.06.2007 – IX ZR 95/13, BGH, Urteil vom 12.10.2006 – IX ZR 228/03; BGH; Urteil vom 25.01.2001 – IX ZR 6/00). Der BGH konstatierte in seinem Urteil vom 28.04.2024 (IX ZR 239/22), dass die tatrichterliche Überzeugung zur Annahme der Zahlungseinstellung voraussetzt, der Schuldner habe aus Mangel an liquiden Mitteln nicht gezahlt. Insbesondere die auf Zahlungsverzögerungen gestützte Annahme der Zahlungseinstellung wurde mit dem v.z. BGH Urteil vom 28.04.2022 (IX ZR 239/22) dahingehend konkretisiert, dass – auch häufig auftretende – verzögerte Zahlungen, ohne Hinzutreten weiterer Umstände und Indizien für die Annahme der Zahlungseinstellung als alleiniges Indiz nicht ausreichend sind. Weitere Beweisanzeichen für das Vorliegen einer Zahlungseinstellung sind gemäß höchstrichterlicher Rechtsprechung u. a. nicht eingehaltene Zahlungszusagen, verspätete Zahlungen unter dem Druck angedrohter Zwangsvollstreckungsmaßnahmen bzw. Liefersperren  (BGH, Urteil vom 09.06.2016 ­ IX ZR 174/15) sowie Erklärungen des Schuldners, seine fälligen Zahlungsverpflichtungen nicht begleichen zu können (vgl. BGH, Urteil vom 18.07.2013 – IX ZR 143/12). Fehlt es an einer solchen Erklärung des Schuldners, müssen die festgestellten Zahlungsverzögerungen sowie die hinzugetretenen Umstände ein Gewicht erreichen, welches einer Erklärung der Schuldnerin gleichkommt, aus Mangel an liquiden Mitteln nicht zahlen zu können. Sind derartig gewichtige Indizien vorhanden und ergibt sich aus der Gesamtschau, dass eine Zahlungseinstellung vorliegt, bedarf es in Ausnahmefällen, in denen keiner darüberhinausgehenden Darlegung und Festlegung der genauen Höhe der gegen den Schuldner bestehenden Verbindlichkeiten oder einer Liquiditätslücke von mindestens 10%, vorausgesetzt  (BGH, Urteil vom 30.06.2011 – IX ZR 134/10, Rn. 3 m.w.N.; BGH, Urteil vom 18.07.2013 – IX ZR 143/12 Rn. 10; BGH, Urteil vom 09.06.2016 – IX ZR 124/15; BGH, Urteil vom 28.04.2024 – IX ZR 239/22).

Eine einmal eingetretene Zahlungseinstellung ist erst dann beseitigt, wenn der Schuldner seine Zahlungen an die Gesamtheit seiner Gläubiger wiederaufnimmt (vgl. vz. BGH, Urteil – IX ZR 228/03; vz. BGH, Urteil – IX ZR 95/13).

Keine Zahlungseinstellung liegt demgegenüber vor, wenn der Schuldner keine Zahlungen leistet, weil er das Bestehen der Verpflichtung dem Grunde oder der Höhe nach mit rechtserheblichen Einwendungen bestreitet. In diesem Fall muss der Schuldner jedoch in der Lage sein, die bestehende Verpflichtung notfalls auszugleichen.
Weiter liegt auch bei Zahlungsunwilligkeit oder Zahlungsverweigerung keine Zahlungseinstellung vor, auch dann nicht, wenn der Schuldner zur Zahlung objektiv in der Lage gewesen wäre.

 

 


Inwiefern eine vom Schuldner bestrittene, prozessbefangene Verbindlichkeit bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit zu berücksichtigen ist, können Sie in unserem Blogbeitrag vom 22.05.2023 nachlesen.

 

 

E.  §°19 InsO – Die Überschuldung

Bei juristischen Personen und ihnen gleichgestellten Personengesellschaften gemäß §°264 a HGB ist auch die Überschuldung ein Eröffnungsgrund (§°15a InsO, IDW S11, Tz. 52).

Von der insolvenzrechtlichen Überschuldung ist die handelsrechtliche, sog. bilanzielle Überschuldung abzugrenzen. Der Begriff der bilanziellen Überschuldung beschreibt den nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrag (negatives Eigenkapital) i. S. d. §268 Abs. 3 HGB und, während die insolvenzrechtliche Überschuldung nach heutiger Rechtsauffassung insbesondere dem präventiven Gläubigerschutz dient. Historisch zielte der Überschuldungsbegriff im alten Konkursrecht rein exekutiv auf die Abgrenzung zwischen Gesamt- und Einzelvollstreckung ab (vgl. K. Schmidt InsO/K. Schmidt/Herchen, 20. Aufl. 2023, InsO §°19 Rn. 1, 2). Im Rahmen der Finanzkrise wurde durch das Gesetz zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarkts (Finanzmarktstabilisierungsgesetz) vom 17.10.2008 der Überschuldungstatbestand zunächst befristet definiert und ist seit seiner Entfristung mit selbigem Wortlaut zuletzt in der ab dem 01.01.2021 geltenden Neuregelung des §°19 Abs. 2 InsO verankert: „Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist in den nächsten zwölf Monaten nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich.“

Die Norm beinhaltet lediglich eine rudimentäre Ausgestaltung der zu prüfenden Tatbestandsmerkmale, jedoch lässt ihre sprachliche Gestaltung bereits erkennen, dass die Prüfung der Tatbestandsmerkmale einer Überschuldung im Sinne des § 19 InsO regelmäßig ein zweistufiges Vorgehen erfordert (vgl. BeckOK InsR/Wolfer, 32. Ed. 15.7.2023, InsO § 19 Rn. 8). Unter Berücksichtigung der einschlägigen Literatur und im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung (sog. Dornier Urteil, vgl. BGH-Urteil vom 13.07.1992 ­ II ZR 269/91, BB 1992,1898; aber auch OLG Köln v 05.02.2009 18 U 171/07, ZIP 2009,808 ff.; OLG Hamburg vom 08.11.2013 – 11 U 192/11, ZInsO 2013, 2447 ff.) hat das IDW im IDW S°11 („Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzgründen“ i. d. F. vom 23.08.2021) Anforderungen an die Aufstellung einer Fortbestehensprognose gestellt. Dabei bestimmen Ausmaß und Stadium der Unternehmenskrise den Zeitpunkt, die Häufigkeit, Fortschreibung und Detaillierungsgrad der Überschuldungsprüfung (vgl. IDW S°11, Tz. 62).

Ein Abweichen von dieser Vorgehensweise kommt nach IDW S°11 nur dann in Betracht, wenn einfach zu beurteilende Sachverhalte, wie beispielsweise das Vorhandensein stiller Reserven, eine Überschuldung ausschließen. In diesen Ausnahmefällen sind die Umstände, die eine Überschuldungsprüfung im üblichen Umfang entbehrlich erscheinen lassen, durch die Geschäftsleitung sorgfältig nachzuweisen und zu dokumentieren (vgl. IDW S°11, Tz. 57).

Auf der ersten Stufe der Überschuldungsprüfung sind die Überlebenschancen des Unternehmens in Form einer Fortbestehensprognose zu beurteilen. Die Fortbestehensprognose beinhaltet nach Auffassung der Rechtsprechung neben dem subjektiven Aspekt des Fortführungswillens, d.h. die unternehmerische Entscheidung zur Fortführung des Geschäftsbetriebs, auch den objektiven Aspekt, der wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit eines Unternehmens in der vorhersehbaren Zukunft.

Die Fortbestehensprognose ist mithin das „wertende Gesamturteil“ über die Lebensfähigkeit eines Unternehmens. Dabei kommt es im Sinne des Schutzzwecks der Norm – dem Gläubigerschutz – nicht darauf an, ob ein Unternehmen künftig Gewinne erzielt. Entscheidend ist lediglich, dass ausreichende finanzielle Mittel zur Tilgung aller im Planungshorizont jeweils fälligen Verbindlichkeiten zur Verfügung stehen. Mithin ist die Fortbestehensprognose eine reine Zahlungsfähigkeitsprognose, welche eine Aussage zur Wahrscheinlichkeit der Gläubigerbefriedigung ermöglichen soll.

Eine positive Prognose setzt voraus, dass bei vergleichender Bewertung die im konkreten Fall zu berücksichtigenden Umstände die Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit aus Perspektive der Geschäftsleitung plausibel und begründbar ist (vgl. IDQ S°11, Tz. 64). Nach nahezu einhelliger Ansicht in der Literatur liegt daher keine Überschuldung vor, wenn die Fortbestehensprognose zu dem Ergebnis gelangt, dass die Fortführung des Unternehmens zu mehr als 50 % wahrscheinlich ist (vgl. Fischer, NZI 2016, 665, 666; MüKoInsO/Drukarczyk/Schüler (o.Fn. 4), §°19, Rn. 77, Graf-Schlicker/Bremen, §°19 Rn. 11, Pape in Kübler/Prütting/Bork, 67. EL Stand: 05/2016, §°19 Rn. 37, Uhlenbruck/Mock, §°19, Rn. 221; Karsten Schmidt in Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 5. Aufl. 2016, Rn. 5.144).

Demzufolge liegt keine Überschuldung i. S. d. §°19 Abs. 2 InsO vor, wenn eine positive Fortbestehensprognose vorliegt, d. h. die Fortführung des Unternehmens überwiegend wahrscheinlich ist und somit keine drohende Zahlungsunfähigkeit gegeben ist (IDW S11, Tz. 52).

Im Falle einer negativen Fortbestehensprognose sind auf der zweiten Stufe Vermögen und Schulden des Unternehmens in einem stichtagsbezogenen Status zu Liquidationswerten gegenüberzustellen. Um den gesetzlichen Anforderungen zur Feststellung einer künftigen, der Fortführung des Unternehmens entgegenstehenden Liquiditätslücke zu entsprechen, ist in der zweiten Stufe auf Grundlage eines Unternehmenskonzepts und der darin enthaltenen Finanzplanung die gesamte finanzielle Entwicklung des Unternehmens ausgehend von der Stichtagsliquidität im Prüfungszeitpunkt und über einen Zeitraum von zwölf Monaten (bzw. vier Monate vgl. §°4 Abs. 2 Nr. 1 SanInsKG) darzustellen (IDW S°11 Tz. 58-60). Ist das sich aus dem Überschuldungsstatus ergebende Reinvermögen negativ, liegt eine Überschuldung vor. Es besteht Insolvenzantragspflicht.

 

F.   Fazit

Während im Rahmen der Zahlungsunfähigkeitsprüfung ein stichtagsbezogener Liquiditätsstatus unter Berücksichtigung einer Drei-Wochen-Frist erstellt wird, wird im Zuge der Überschuldungsprüfung die potentielle Entwicklung der Vermögenslage über die folgenden 12 Monate bewertet. Ungeachtet dessen sind sowohl die Zahlungsunfähigkeit, als auch die Überschuldung, zentrale Begriffe des Insolvenzrechts, deren Eintritt die Pflicht zur Insolvenzantragsstellung nach sich zieht. Als Verschleppungstatbestand eröffnet ihr Nachweis zudem den Rechtsweg der strafrechtlichen Verfolgung wegen Insolvenzverschleppung/Bankrott i.S.d. §°15 a Abs. 4,5 InsO i. V. m. §°283 StGB, wie auch das gesellschaftsrechtliche Haftungsverfahren wegen verbotener Zahlungen gemäß §°15 b InsO.

Insbesondere im Fall der Überschuldung trifft die Geschäftsleitung im Haftungsprozess eine sekundäre Darlegungs- und Beweislast, welche sie dazu anhält, den notwendigen Nachweis der Umstände zu erbringen, der auf eine positive Fortbestehensprognose schließen lässt.

Naturgemäß ist die insolvenzrechtliche Fortbestehensprognose jedoch mit Unsicherheiten behaftet, was in der Praxis zur Folge hat, dass die Frage nach einer positiven Fortbestehensprognose meist nicht eindeutig beantwortet werden kann. So ist jeder Planung immanent, dass mit zunehmender zeitlicher Entfernung der prognostizierten Ereignisse oder Annahmen vom Beurteilungsstichtag der Grad der Unsicherheit steigt, während zeitgleich der Detaillierungsgrad sinkt. In Anbetracht der Komplexität der für die Planung maßgeblichen Faktoren sowie der typischen Ungewissheit, die bei allen in die Zukunft gerichteten Vorhersagen besteht, lässt sich die Aussage über Aussichten des finanziellen Fortbestehens eines Unternehmens, in der Regel nicht nur von den Erfahrungen und dem kaufmännischen Geschick der Leitungsorgane ableiten (vgl. Fischer, NZI 2016, 665, 666, MüKoInsO/Durkarczyk/Schüler, §19, Rn. 77 ff.; Uhlenbruck/Mock, §°19, Rn. 216, 222, MüKoAktG/Spindler, 4. Aufl. 2014, §°92, Rn. 36-38, Kühne/Nickert, ZInsO 2014, 2297, 2300ff.). Eine fachgerechte Prüfung der rechnerischen Überschuldung erscheint daher naheliegend, um im Falle eines späteren Insolvenzverfahrens die Entscheidung der Fortführung des Unternehmens zu legitimieren, Haftungsrisiken zu minimieren (vgl. BeckOK InsR/Wolfer, 32. Ed. 15.7.2023, InsO § 19 Rn. 9) und den Anforderungen einer ordnungsgemäßen Dokumentation zu entsprechen (OLG Celle, 05.12.2001 – 9 U 204/01, OLG Koblenz 27.02.2003 – 5 U 91/02). Die Hinzuziehung fachgerechter Beratung erlangt nicht zuletzt durch das Urteil des OLG Naumburg vom 30.05.2018 (Az.: 5 U 8/18) rechtliche Relevanz. So konstatierte das Gericht, dass eine fachgerecht erarbeitete Fortbestehensprognose rechtlich grundsätzlich nicht angreifbar sei.

Es ist daher grundsätzlich empfehlenswert, sich bei Anzeichen finanzieller und wirtschaftlicher Schwierigkeiten kurzfristig beraten zu lassen, um das Vorliegen von Insolvenzantragsgründen oder im Falle der eingetretenen entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

Gerne beraten wir Sie in Ihrem Anliegen.